Wieviel Wasser geht über den Einser-Kanal verloren?

Bei niedrigem Wasserstand im Neusiedler See wird öfters behauptet, die Ungarn lassen „geheim“ Wasser aus dem See in den Einser-Kanal ab. Solche Gerüchte halten sich hartnäckig. Woher aber kommt das Wasser im Einser-Kanal wirklich?

Der Neusiedler See ist ein abflussloser Steppensee. Um den See bei Hochwasser zu regulieren, wurde vor rund 100 Jahren ein künstlicher Abfluss gegraben: der Einser-Kanal. Das Wasser im Kanal stammt aber nicht unbedingt aus dem Neusiedler See, denn die Sache ist ein bisschen komplizierter. Vier Mythen über den Einser-Kanal im Faktencheck.

„Wasser wird ‚geheim‘ aus dem See abgelassen“

Mythos 1: „Der Wasserstand im Neusiedler See ist deshalb so niedrig, weil Ungarn über den Einser-Kanal (ungarisch: Hánsagkanal) Wasser geheim aus dem Seebecken ablässt.“ Das wäre aus mehreren Gründen nicht möglich. Seit 1965 wird die Wehranlage des Einser-Kanals von der Österreichisch-Ungarischen Gewässerkommission geleitet. Das bedeutet, dass Entscheidungen nur in Abstimmung getroffen werden können. Die Vorgaben dafür sind genau geregelt und lassen sich in der seit 2011 geltenden Wehrbetriebsordnung nachlesen. Dort sind Grenzwerte für jedes Monat im Jahr festgelegt. Wird eine kritische Marke überschritten, leitet die Gewässerkommission die vorgesehenen Schritte ein.

Hochwasserstände im Neusiedler See hat es aber schon seit Jahren keine mehr gegeben. Man muss bis ins Jahr 2015 zurückgehen, als die Seerandschleuse zum letzten Mal geöffnet wurde. Oder anders formuliert: Das Wasser im Einser-Kanal speist sich seit acht Jahren (Stand, Dezember 2023) nicht aus dem Neusiedler See.

Diagramm Seerandschleuse.
Im März 2015 wurde die Seerandschleuse zum letzten Mal geöffnet. Die Grafik zeigt die tägliche Durchflussmenge, als das Wehr geöffnet war. © by Wasserportal Burgenland

Ob das Wehr geöffnet ist, lässt sich für alle, die es interessiert, gut einsehen. Auf der Website Wasserportal Burgenland dokumentiert eine Webcam den aktuellen Stand des Seerandwehrs, das in Ungarn in der sogenannten Meksikópuszta liegt.

Schleuse zur Ableitung von Wasser aus dem Neusiedler See im Hansag, Ungarn
Das Seerandwehr liegt in der Mekszikópuszta (Ungarn) bei Kilometer 32 des Einser-Kanals. Es ist der einzige Abfluss des Neusiedler Sees und seit 2015 geschlossen. © by Nationalpark Neusiedler See / Alois Lang

„Im Einser-Kanal fließt das Wasser“ – Schleuse offen?

Mythos 2: „Im Einser-Kanal fließt das Wasser – also muss die Schleuse geöffnet sein.“ Dieser Rückschluss ist so nicht richtig. Die Fließbewegung im Wasser rührt daher, dass eine Vielzahl an Entwässerungsgräben, die in den vergangenen 100 Jahren (und davor) angelegt wurden, in den Einser-Kanal münden. In der Wehrbetriebsordnung heisst es dazu:

Das Seewasser-Ableitungssystem (Hanságkanal und Rábca) bildet den Vorfluter für die Gewässer und Kanäle aus dem angrenzenden Gebiet auf österreichischer und ungarischer Seite. Über das Gewässersystem Hanságkanal und Rábca werden neben den Abflüssen aus dem Neusiedler See die Hochwässer der Ikva und die Binnenwässer beidseits dieses Systems zur Mosoni Duna und damit zur Donau abgeleitet.

Das heißt: Das Wasser im Kanal stammt in den seltensten Fällen aus dem Neusiedler See – nur dann, wenn dort eine Hochwassermarke überschritten wird.

„Der Wasserstand im Kanal ist höher als im See“

Mythos 3: „Im Einser-Kanal ist der Wasserstand höher als im Neusiedler See. Das kommt davon, dass wieder Wasser aus dem See abgelassen wurde.“ Das ist falsch. Auch hier gilt: Der Einser-Kanal speist sich durch insgesamt hunderte Kilometer an Drainagen vom Norden im Seewinkel und im Waasen (österreichischer Teil des Hanság) sowie aus dem Süden im ungarischen Hanság. Zusätzlich fließen – siehe Absatz vorhin – auch kleinere Bäche wie die Ikva in den Einser-Kanal. Damit entwässert der Kanal eine Fläche von mehreren hundert Quadratkilometern.

Anders ausgedrückt: Der Einser-Kanal entwässert in wenigen, kontrollierten Fällen den Neusiedler See, aber kontinuierlich das Feuchtgebiet des Hanság

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Zu sehen ist ein Netzwerk aus hunderten Kilometern Drainagegräben und Bächen, sowie die Rabnitz (die im Unterlauf auf ungarisch Rábca heisst). Quelle: Wasserportal Burgenland

Entwässerungsgräben wurden im Hanság und im heutigen Seewinkel schon vor Jahrhunderten angelegt. Das Gebiet war eine riesige Moor- und Sumpflandschaft, die an die komplexen Wassersysteme der Donau und der Raab angeschlossen war. Eine Intensivierung der Urbarmachung fand im vergangenen Jahrhundert statt, als hunderte Kilometer an Drainagen gegraben wurden. Helmut Rojacz, lange für das Hauptreferat Wasserwirtschaft zuständig, über die Hintergründe:

In den 1940er-Jahren begann man intensiv Flächen im Seewinkel zur Urbarmachung zu entwässern. Insbesondere nach dem Hochwasser 1941, als 30.000 Hektar unter Wasser standen. Das ist eine Fläche fast so groß wie der Neusiedler See selbst. Alte Akten zeigen, wie damals von Norden nach Süden Entwässerungsgräben gezogen und in den Einser-Kanal eingeleitet wurden. An manchen Stellen errichtete man in der Folge auch Pumpstellen, um bei Wasserhochständen das Gebiet auf diese Weise zu entwässern. Diese kommen nur selten zum Einsatz.

Helmut Rojacz

Dass es in kurzer Zeit zu dramatischen Zuwachsraten kommen kann, zeigte sich etwa auch am Pfingstwochenende 1991. Damals kam es in der Region zu einem Hochwasser, der Wasserstand des Sees stieg innerhalb von drei Tagen um 20 Zentimeter. Das entspricht einer Menge von 60 Millionen Kubikmeter Wasser. Auch dafür braucht es eine Regelung, um, so Rojacz, für solche – seltenen – Ereignisse gewappnet zu sein.

„Die Ungarn lassen im Notfall nicht genug Wasser ab“

Mythos 4: „Bei Hochwasser lassen die Ungarn nicht genug Wasser ab, um die Flächen auf der österreichischen Seite der Grenze vor Überschwemmungen zu schützen.“ Das ist nur die halbe Wahrheit. Der Einser-Kanal wird nicht nur durch zahlreiche Kanäle gespeist, er transportiert das Wasser auch in die Rabnitz (Répce) weiter. Diese fließt bei Györ in die Mosoni Duna, wodurch am Ende das Wasser der Region Neusiedler See über die Donau im Schwarzen Meer landet.

Führen die Rabnitz und die Donau Hochwasser, kommt es an der Mündung in Györ, wo eine Schleuse den Wasserstand regelt, zu einem Rückstau (s.o. die Karte mit dem Hochwassertor in Abda). Die Situation in Györ limitiert damit bei hohen Wasserständen die Möglichkeiten, den Einser-Kanal zu befüllen. Insofern müssen die Dynamiken des Kanals nicht nur von der Wassersituation des Seewinkels und des Hanság aus betrachtet werden, sondern braucht es – zumindest in solchen Situationen – auch einen Blick in Richtung von dessen Mündung. 

Zur Bauweise des Einser-Kanals

Gebaut wurde der Einser-Kanals bereits 1895, damals gegen den Widerstand zahlreicher Bauern. 14 Jahre später hatten zahlreiche in die Region geholte Arbeiter den Kanal in mühsamer Handarbeit fertiggestellt. Die Dämme des Kanals entstanden, anders als heute, nicht in verdichteter Bauweise. Es wurde Erdreich aufgeschüttet und das Material so gut wie möglich komprimiert. Dementsprechend sind die Dämme bei höherem Druck durchlässig, wodurch Sickerwasser auf die Flächen links und rechts der Dämme austreten kann. Um die Funktionsweise dieses – so wie jedes – Kanals zu gewährleisten, bedarf es auch ständiger Wartungsarbeiten. Biber, die einen Baum in den Gewässerbereich umlegen oder Schilfpflanzen, die die Durchflussmenge stören, sorgen auf einer Länge von über 30 Kilometern für einigen Aufwand.

Der Einser-Kanal wird wieder freigebaggert, um seine Funktionalität zu erhalten.
Wartungsarbeiten im Einser-Kanal: Sediment und Bewuchs müssen regelmässig entfernt werden. © by Nationalpark Fertö-Hanság / Attila Pellinger

Warum heisst der Kanal überhaupt „Einser-Kanal“?

Der Einser-Kanal war, wie der Name verrät, nur als erster einer Reihe großer Entwässerungskanäle geplant. Zum Bau des Zweier-Kanals (der beim Grenzspitz bei Pamhagen in den Einser-Kanal mündet) kam es noch, die weiteren Kanäle wurden nicht mehr realisiert. 

Zweier-Kanal beim Grenzspitz. Quelle: Gunnar Landsgesell

Ziel des Baus des Einser-Kanals (ungarisch: Hansági-főcsatorna) war es, den Neusiedler See trockenzulegen, um dessen Flächen landwirtschaftlich zu nutzen. Diese Pläne sind zwar gescheitert, mögen aber als Beleg dafür dienen, wie wenig das Ökosystem des Seewinkels-Hanság mit seinen komplexen Wasserkreisläufen verstanden wurde. Den Einser-Kanal gibt es dennoch bis heute. Er dient wie erwähnt dazu, den See bei hohen Wasserständen zu regulieren. Er bietet Schutz vor Hochwässern, insbesondere für die Infrastruktur im Süden, etwa die Seebäder in Illmitz und Mörbisch. So flach der Neusiedler See auch ist, kommt es aufgrund seiner beachtlichen Ausdehnung immer wieder zu massiven Windverfrachtungen. Dadurch kann der Wasserstand im Süden gut einen halben Meter höher sein als im Norden (mit Spitzenwerten bis zu einem Meter). 

Neue Wehrbetriebsordnung seit 2011

In den Jahrzehnten nach dem Bau des Kanals und der Seerandschleuse (Wehranlage Mekszikópuszta) wuchs als Folge der Regulierung auch der Schilfgürtel deutlich an. Im Jahr 1965 reagierte man darauf und legte neue Kriterien für ein Ablassen des Wassers fest. Das Schilfwachstum wurde eingedämmt – damit aber auch die große Variabilität von Wasserständen, die für die Ökologie des Steppensees wichtig ist. Seit damals schwankt der Wasserstand des Neusiedler Sees zwischen 115 und 116 Meter über Adria. Mittlerweile haben sich die klimatischen Bedingungen weiter verändert. In den vergangenen Jahren fielen die Niederschläge geringer aus als die Verdunstungsraten. Auf diese Entwicklungen hat auch die Gewässerkommission reagiert. Im Jahr 2011 wurde die alte Wehrbetriebsordnung adaptiert und neue (höhere) Grenzwerte für Ableitungen festgelegt. Seither wird die Schleuse erst ab einem Pegelstand von 115,8 Metern über Adria geöffnet. Erst dann wird Wasser wird aus dem Neusiedlersee über den Einser-Kanal abgelassen. 

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